Dienstag, 15. Oktober 2019

NZZ über Extinction Rebellion mit Zitat von mir

Der folgende Artikel ist am 11.10. in der NZZ mit einem kleinen Interview mit mir erschienen:

Die Sanduhr ist das Symbol der Klimaschutzbewegung, die gegen das Aussterben rebelliert. Ihre Botschaft lautet: Die Zeit läuft ab.

Im Krieg gegen das Klima – Extinction Rebellion ist längst auch in der Schweiz angekommen
Die Klimaproteste werden radikaler. Mit Strassenblockaden in Berlin und Paris sorgen die Aktivisten von Extinction Rebellion international für Schlagzeilen. Auch hierzulande sind sie aktiv. Ein Besuch bei einem Treffen.
Linda Koponen
11.10.2019, 05:30 Uhr

Mittwochabend, 19 Uhr, im Cabaret Voltaire in Zürich. Die Klimaschutzbewegung Extinction Rebellion – auf Deutsch: Rebellion gegen das Aussterben – hat Interessierte zu einem Kennenlernen eingeladen. Der Saal im hinteren Bereich des Lokals ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der Bühne steht ein junger Mann mit türkisfarbenen Haaren und einem T-Shirt, worauf zwei übereinander stehende Dreiecke in einem Kreis abgebildet sind. Es ist das Symbol der Bewegung, eine Sanduhr mit der Botschaft: Die Zeit läuft ab.

Beim Newcomer-Treffen will XR, wie sich Extinction Rebellion selber nennt, neue Aktivisten für künftige Aktionen rekrutieren. Die Bewegung ruft weltweit zu zivilem Ungehorsam auf, mit dem Ziel, die öffentliche Ordnung zu stören und so auf das «massenhafte Aussterben» aufmerksam machen. Seit ein paar Tagen blockieren Aktivisten in zahlreichen Grossstädten wie Berlin oder Paris Verkehrsknotenpunkte.

Auch in der Schweiz gab es bereits einige Aktionen: In Zürich sorgte die grün gefärbte Limmat Anfang September für erste Schlagzeilen. Wenige Tage später fand in Luzern ein Trauermarsch statt, in Lausanne blockierten die Aktivisten eine Brücke. Damit erreichen die Klimaproteste, die ursprünglich von Greta Thunberg als Schulstreik initiiert wurden, eine neue, radikalere Stufe.

Doch was sind das für Leute, die sich auf Brücken legen oder Farbe in die Limmat schütten? Und was wollen sie mit ihren Aktionen erreichen?

Gandhi als Vorbild
Eine von ihnen ist Gloria. Sie engagiert sich seit vier Monaten bei Extinction Rebellion und ist für Medienanfragen zuständig. Aus beruflichen Gründen möchte sie in der Zeitung nur mit Vornamen genannt werden. Kurze Locken, roter Lippenstift, ein adretter Blazer: Optisch wirkt die 27-Jährige nicht wie eine Extremistin. Sie sei unpolitisch aufgewachsen, habe vor einem Dreivierteljahr erstmals an einer Klimademonstration teilgenommen, sagt sie. Auf Extinction Rebellion aufmerksam geworden sei sie durch eine Informationsveranstaltung. «Dort wurde mir so richtig klar, dass wir uns in einer existenziellen Krise befinden, die sofortiges Handeln erfordert.»

Die Bewegung, die Ende 2018 in Grossbritannien gegründet wurde, ist dezentral organisiert und kennt keine Hierarchien. In der Schweiz ist sie seit Anfang des Jahres aktiv, bis dato gibt es 15 lokale Gruppen. Die Zahl der Aktivisten hierzulande schätzt Gloria auf 200 bis 300 – Tendenz steigend. Die Organisation finanziert sich durch Spenden und kann sich dabei über grosszügige Geldgeber freuen. Vor wenigen Tagen kündigte R.E.M.-Frontmann Michael Stipe an, die gesamten Einnahmen seiner Solo-Single an Extinction Rebellion zu spenden. Andere wollen lieber anonym bleiben. Wer die Bewegung in der Schweiz finanziert, war nicht in Erfahrung zu bringen.

Die Forderung von Extinction Rebellion ist radikal: Netto null Treibhausgasemissionen bis 2025. Dabei müssten die Regierungen «die Wahrheit über die tödliche Bedrohung offenlegen und alle Gesetze revidieren, die ihrer Bewältigung entgegenstehen», heisst es in der Informationsbroschüre für die Interessierten. Konkrete Massnahmen schlägt die Bewegung indessen keine vor. Stattdessen wollen die Aktivisten Bürgerversammlungen einsetzen, «in denen diese voneinander lernen und gemeinsam Entscheidungen treffen, die nötig sind, um die Krisen abzuwenden und ein menschlicheres, ökologischeres System zu schaffen».

Dirk Baier ist Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er verortet die Bewegung irgendwo zwischen Linksextremismus und Tierrechtsextremismus. Mit dem Linksextremismus teile sie die Demokratiefeindlichkeit, die Kapitalismusfeindlichkeit und die Handlungsorientierung. Zugleich gehe es der Bewegung nicht primär um die Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung Anarchismus.

Die 37-jährige Myriam ist zeitgleich mit Gloria zu Extinction Rebellion gestossen. Es gehe nicht darum, die Regierung zu stürzen oder die Demokratie auszuhebeln, sagt sie. Bisher hätten klassische demokratische Mittel wie Petitionen oder bewilligte Demonstrationen jedoch versagt. Der Mitgründer von Extinction Rebellion, Roger Hallam, fand hierfür in einem Interview mit «Spiegel Online» derweil deutlichere Worte: «Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant.»

Von den Störaktionen versprechen sich die beiden Frauen vor allem Aufmerksamkeit. Dass sie damit die öffentliche Ordnung störten, sei bedauerlich, sagt Myriam. «Es ist jedoch unsere moralische Verpflichtung, zu agieren und dabei auch die eigene Freiheit aufs Spiel zu setzen.» Dazu, sich verhaften zu lassen, sind weder Myriam noch Gloria derzeit bereit.

Andere Aktivisten nehmen das bewusst in Kauf, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. So auch der 27-jährige Kim, der sich seit Sonntag an den Blockaden in Berlin beteiligt. Der St. Galler ist bei Extinction Rebellion für Social Media verantwortlich. «Ich habe keine Angst davor, verhaftet zu werden oder meinen Job zu verlieren – wenn wir aussterben, dann gibt es auch keine Arbeitsplätze mehr», sagt er am Telefon. Die Geschichte gebe ihnen recht: Ziviler Ungehorsam habe bereits bei Gandhi oder Martin Luther King funktioniert. Es sei die Liebe zur Erde, die ihn antreibe. Zugleich habe er jedoch grosse Angst vor den gesellschaftlichen Konsequenzen der globalen Krise.

Unterschiedliche Risikostufen
Angst ist an diesem Mittwochabend auch das prägende Thema im Cabaret Voltaire. Die meisten der rund 60 Anwesenden sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Dabei sind Studenten, Kunstschaffende, Wissenschafter. Viele geben an, sich zuvor noch nie politisch engagiert zu haben. Man wähnt sich mehr an der Sitzung einer Selbsthilfegruppe als am Treffen einer Rebellenorganisation. Es sei schön, mit seinen Sorgen nicht länger alleine zu sein, sagt jemand.


Den Kern allen Übels verorten viele in der neoliberalen Ökonomie. Der Kapitalismus sei das Problem, sagt ein Neuankömmling und fordert einen Systemwandel. Dafür erntet er von einer XR-Aktivistin zustimmendes Nicken. Eine junge Mutter erklärt mit bebender Stimme, dass sie sich Sorgen um die Zukunft ihres Kindes mache, aber noch nicht genau wisse, wie sie sich engagieren wolle und ob sie bereit sei, sich verhaften zu lassen.

Am gleichen Tisch sitzt auch Christina Marchand. Sie hat sich bereits an mehreren Protestaktionen beteiligt, früher bei Organisationen wie Greenpeace und «fossil-free», zuletzt auch bei Extinction Rebellion. Als die Limmat in Zürich grün gefärbt wurde, stand die 50-jährige Chemikerin auf der Brücke und informierte die Passanten über die Ursachen und Folgen des Klimawandels. Leider würden nur Aufsehen erregende Aktionen von der Presse aufgenommen, sagt sie. Es reiche nicht, nur die Tatsachen zu kommunizieren.

In der Informationsbroschüre für die Neuen sind Aktionen unterschiedlicher Risikostufen aufgelistet. Zu Stufe null gehören legale Aktionen wie angemeldete Demonstrationen oder Stände. Aktionen der Stufe eins sind zwar teilweise rechtswidrig, den Aufforderungen der Polizei wird aber Folge geleistet. Erst bei Aktionen der zweiten Stufe wird eine Festnahme im Kauf genommen.

Sie habe immer darauf geachtet, nicht verhaftet zu werden – auch wegen ihrer Kinder, sagt Marchand. «Eine grössere Menschenmenge würde mir aber den Mut geben, mich auch festnehmen zu lassen.» Es bleibe schlicht keine Zeit mehr, demokratische Prozesse abzuwarten, sagt Marchand und fügt an: «Im Grunde befinden wir uns in einem Krieg gegen das Klima, deshalb sollte die Regierung auch den Notstand ausrufen und entsprechende Massnahmen ergreifen.»

Martialische Rhetorik
Eines der Kernprinzipien von Extinction Rebellion ist die Gewaltfreiheit. Die Rhetorik im kürzlich erschienenen Handbuch der Bewegung mutet jedoch in Teilen martialisch an: Es ist von der «Ökonomie als Krieg gegen den Planeten» die Rede. Davon, sich auch «körperlich in die Schusslinie zu begeben». Oder von «der heiligen Pflicht», gegen alles zu rebellieren, was der Verwirklichung und Vision der Bewegung im Wege stehe.

Droht bei stetiger Steigerung der Aktionen eine Eskalation? Mike Schäfer, der an der Universität Zürich zu Klimawandelkommunikation forscht, sagt: «Der Gewaltverzicht ist tief in der Bewegung verankert.» Extinction Rebellion sei eine friedliche Bewegung, die mittels symbolischer Aktionen und Blockaden politischen Druck ausüben und mediale Aufmerksamkeit erregen wolle. Ob die Bewegung von längerer Dauer sei, sei schwer einzuschätzen.

Fest steht aber, dass es kaum bei der grünen Limmat und dem Trauermarsch in Luzern bleiben dürfte. Was in der Schweiz als Nächstes geplant ist, wollen die Aktivistinnen nicht verraten. Gloria sagt dazu nur: «Wir hören erst auf zu rebellieren, wenn unsere Forderungen vollumfänglich umgesetzt werden.» Am Mittwoch dürften sie einige neue Mitkämpfer gewonnen haben.

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